19März
2020

Weitsprung im Graupelschauer

Der heutige Tag begann früh, gegen 8:30 Uhr. Dafür gab es einen guten Grund: Oli reiste ab. Nach Spanien. Sie hatte die letzten Tage schon bei einem Freund in Reno verbracht, weil sie zunächst davon ausging, dass wir einfach nur aus der Sierra Hall raus müssen. Allerdings hatte sie sich recht schnell umentschieden. Und so holte sie heute früh noch ihre Sachen ab, die sie vorübergehend im Zimmer gelassen hat und verabschiedete sich dann. Jeder der irgendwie wach war kam nochmal schnell nach unten in die Lobby. Ich hab das auch nur Peter zu verdanken, sonst wäre ich nicht aufgestanden. Wir fuhren nach unten, wo Oli schon fast am Gehen war. Ich weiß schon gar nicht mehr wer noch alles da war, so schnell ging das. Wir umarmten uns alle nochmal fest und dann war sie auch schon aus der Tür. Irgendwie unwirklich. Wer weiß, wann wir uns das nächste Mal sehen? Man sagt zwar immer, dass man sich "bald" wiedersehen wird, ob in Spanien oder in Reno, aber wird man das wirklich? 2 Jahre später haben sich die Prioritäten vielleicht schon wieder verschoben. Und selbst wenn, schafft man es bestimmt nicht, sich zu mehreren zu treffen. Ema hat das nun öfters erwähnt und wir sagen immer, dass sie spinnt. Aber tief in uns drin wissen wir, dass es nicht einfach ist...

Aber tatsächlich gab es dann auch eine erfreuliche Nachricht: Reggy wird nicht fliegen! Das geht bei ihr echt hin und her. Offenbar darf sie nirgendwo hinfliegen, ohne dass ihr Programm das erlaubt. Und einen Flug zu Bekannten nach Los Angeles ist wohl in deren Augen nicht förderlich. Gut, ist auch irgendwie verständlich, da man unnötiges Reisen gerade vermeiden soll. Sie bleibt also erstmal! So wie schon vorgestern ist also nun wieder erstmal durchatmen für Reggy (und für uns) angesagt. Das war zumindest mal was schönes. Tja und was macht man dann um 9 Uhr wenn man noch im Halbschlaf ist und nichts zu tun hat. Na klar, sich wieder ins Bett legen. Peter machte es mir nach und wir dösten am Ende beide bis nach 13 Uhr vor uns hin. Ich fand am Ende sogar noch eher die Kraft aufzustehen und realisierte, dass The Overlook nur noch bis 14 Uhr offen hat. Das ist mittlerweile neben The Habit das einzige Essen, das es auf dem Campus gibt. Und das einzige wofür man Meal Swipes einsetzen kann. Da wir ja gestern schon bei Habit Burgers waren war The Overlook heute also quasi die einzige Option. Peter war noch nicht bereit und so wollte ich zuerst alleine gehen, aber Daniel schloss sich mir spontan an, nachdem ich in die Gruppe schrieb. Wir liefen rüber und fanden ein fast komplett verlassenes Overlook vor. Keine Studenten weit und breit und alle Angebote hatten schon zu außer die Nudeltheke, die gerade kurz davor war zuzumachen. Der Koch hatte aber Erbarmen mit uns und machte uns noch eine Schüssel mit hausgemachten Nudeln und allerlei Krimskrams. Joaquin schaute dann sogar auch noch vorbei und so machte der Koch leicht genervt noch eine Portion. Im Anschluss dann das nächste Problem: Wir konnten uns nirgends hinsetzen, da alle Stühle weggeräumt wurden. Die Tische waren zwar noch da, aber es klebte eine Notiz drauf, dass man wegen Social Distancing nun nicht mehr in der Mensa essen darf. Naja, wir waren eh schon die ganze Zeit zusammen, also wäre es bei uns egal gewesen. Wir stellten uns am Ende einfach hinter die Kasse und aßen im Stehen. Die Nudelportion war für uns alle größer als sie aussah und keiner konnte alles essen. Aber die Nudeln waren diesmal zumindest besser als das erste Mal, dass ich sie hier gegessen hatte. Wir liefen wieder zurück zur Sierra Hall, wo wir wieder zwei Gänse beim Straße überqueren zuschauen konnten. Sie legten natürlich wieder den ganzen Verkehr lahm. Anscheinend sind das sehr faule Tiere, wenn man bedenkt, dass sie ja Flügel haben. :D

Im Wohnheim füllte ich zunächst mal die Umfrage aus, die an alle rumgeschickt wurde, um zu erfassen, wer nun unbedingt bleiben muss. Die RA's hatten dazu sogar Zettel an jede Tür geklebt, da es ziemlich wichtig ist. Ich gab an, dass ich auch nach dem 25. März (dem Stichtag) ein Zimmer brauche, da ich ja internationaler Student bin und nirgends hin kann. Mal schauen, wie sich das Ganze noch entwickelt. Ich tauschte mich dann noch mit Diana über WhatsApp darüber aus, was wir nun machen sollen. Sie ist ja in Texas und bekommt alles was hier passiert nur über Nachrichten mit. Sie ist sich genauso unsicher wie ich. Wir wollen auch erstmal noch abwarten, was Auslandsamt, PROMOS, OISS usw. sagen. Leider meldete sich dann schon wieder der nächste. Peter ließ mich wissen, dass er zusammen mit Jiwon sich dazu entschieden hat, zurück nach Südkorea zu fliegen. Diesmal wirklich. Mittlerweile hat sich die Lage so geändert, dass es wohl das sinnvollste für beide ist. Die beiden haben sogar schon einen Flug gebucht. Für den 24. März. Das ist in 5 Tagen. Natürlich könnte ich jetzt wieder darauf wetten, dass daraus am Ende doch nichts wird. Aber irgendwas in Peter's Art verriet mir, dass das endgültig war. Das war es nun also. Wir haben noch 5 Tage zusammen und dann ist es vorbei. Die komplette Reno-Experience mit Peter als Zimmergenossen. Natürlich machte mich auch das wieder schwermütig. Aber Peter hatte eine gute Idee, um erstmal wieder auf andere Gedanken zu kommen.

Die beiden Athleten in unserer Gruppe hatten die letzten Tage immer mal wieder vorgeschlagen, zu den Sportplätzen zu gehen und einfach ein bisschen Sport zu machen, wie auch immer das dann aussieht. Und genau das hatte Peter nun spontan in der Gruppe vorgeschlagen. Ema und Daniel waren sofort mit dabei. Ich natürlich auch und auch Reggy schloss sich an und so stiefelten wir kurze Zeit später zum Campus. Ema hatte sich vor ein paar Wochen einen Fußball gekauft um damit ihre Wurftechnik zu verbessern (wir hielten das für einen Scherz, aber so machen es Werfer wohl wirklich). Den hatte sie jetzt eingepackt und der Plan war, im Mackay Stadium Fußball zu spielen. Am Stadion angekommen sperrte Ema uns das Tor auf. Wahnsinn, ich hatte nicht damit gerechnet, hier einmal reinzukommen. Die Football-Saison ist ja schon vorbei und sonst wird das Stadion für nicht viel anderes genutzt. Da zahlt es sich nun aus, sich mit Student Athletes angefreundet zu haben! Wir liefen vorbei an der Wolf-Statue im Eingangsbereich, unter dem Südostblock hindurch und sahen auf einmal die ganze Pracht des Stadions vor uns. Schon eindrucksvoll. Leider sahen wir auch, dass das Feld von einigen Football-Spielern blockiert war. Wobei mich das nicht einmal störte. Ich stand auf einmal vor echten College-Footballspielern, die sich Bälle zuwarfen. Ein paar andere Studenten vom Leichtathletik- und vom Langstreckenlaufteam waren auch da und machten auf der Tartanbahn an der Seite ein paar Übungen. Und ich stand einfach so mit dabei. Als wäre ich auf einmal Teil einer Welt, die ich stets bewundert hatte. Oder war ich das durch den Kontakt zu Ema, Oli, Daniel, Rayven etc. nicht sowieso schon? Naja, leider zerstörte das unsere Pläne und so verließen wir das Stadium gleich wieder und gingen rüber zu den anderen Sportplätzen. Der Fußballplatz war aber leider abgeschlossen und Ema und Daniel hatten keinen Schlüssel dazu. Es blieb am Ende nur noch eine Option. Die "Athletics East"-Anlagen. Das sind die Anlagen, wo die Leichtathleten, die nichts mit Laufen zu tun haben, trainieren. Außerdem befinden sich hier die Tennisanlagen für die Tennismannschaft der Uni (die ja sonst keiner nutzen darf, obwohl sie viiiel naher wären als die öffentlichen Plätze die wir mit dem Tennisclub immer nutzen). Hier war ich mit einigen der anderen sogar schon einmal vorher, als wir zu spät zu einem Tennisturnier kamen (zu dem Tag gibt es einen ziemlich sentimentalen Blogeintrag, ihr wisst eventuell wovon ich spreche :P), daher war auch der Zugang für uns nichts neues. Eigentlich ist das Gelände abgesperrt, aber es gibt ein sehr großes Loch im Zaun, das alle Athleten ohne Auto quasi als ständigen Haupteingang nutzen, weil es zudem auch an einer sehr praktischen Stelle liegt. Man muss zwar die kleine Bahnlinie überqueren, die gleich daneben verläuft, aber ich hab hier noch nie einen Zug gesehen und kenne auch niemanden, der jemals einen gesehen hat. Ob die überhaupt noch intakt ist? Wir liefen also durch den Zaun aufs Gelände und hatten auf einmal eine bessere Idee als Fußball: Weitsprung! Die Sprunggrube mit Sand und langer Anlaufbahn lud uns förmlich dazu ein. Zumal gerade wir anderen das ja viel seltener machen als Fußball. Wir schoben also die Plane zur Seite und machten uns bereit. Dazu muss man sagen, dass das Wetter schon den ganzen Tag über nicht das beste war. Um genau zu sein war es ziemlich kalt. Wir wollten uns zwar mit dem Sport etwas aufwärmen, aber ein paar mal springen reicht da noch nicht. Reggy hielt sich deswegen von Anfang an eher raus. Die anderen waren viel robuster als ich und zogen wie selbstverständlich ihre Jacken aus. Ich versuchte den ersten Sprung mit meiner dicken Winterjacke und scheiterte kläglich. Also zog ich sie auch aus und sprang daraufhin schon ein bisschen besser. Ema, Daniel, Peter und ich machten einen kleinen Wettbewerb. Und mittendrin begann es auf einmal zu... ja was denn? Regen war das nicht, aber auch kein Schnee. Es war tatsächlich Graupel! Wir konnten uns das aber nicht untereinander sagen, da keiner von uns das englische Wort dafür kannte. :D Es war auf eine Weise richtig cool. Ich machte Weitsprung im Graupelschauer hier auf der offiziellen Anlage der UNR zusammen mit einer Italienerin, einem Kenianer, einem Südkoreaner und eine Filipino schaute zu während draußen eine Pandemie langsam anfängt, die Welt lahmzulegen. Klingt schon verrückt, wenn man es so im Ganzen betrachtet. Natürlich haute ich nicht gerade die Bestweiten raus (ohne Übung wohlgemerkt, in der Schule war ich immer recht gut :P), ganz im Gegensatz zu Peter, der am Ende sogar gewann. Wer hätte das gedacht? Na gut, nur weil die Athleten andere Disziplinen ganz gut können, heißt das nicht automatisch, dass sie auch in Weitsprung gut sind, aber ich hätte zumindest nicht gedacht, dass Peter sie einfach so überspringt. Wir hingen noch eine kleine Runde Dreisprung hinten dran, wo ich durch meine Beine natürlich einen Vorteil hatte. Nur hatte ich die Technik offenbar falsch im Kopf. Man springt nämlich mit dem ersten Bein zweimal und dann erst mit dem anderen. Fühlte sich komisch an und half mir auch nicht dabei, weiter zu springen. Na gut, belassen wir es dabei. Wir spielten dann doch noch ein wenig Fußball, allerdings ohne Tor, sondern machten nur so ein paar Pässe und Teamspiele. Am Ende hatte Peter noch die Idee zu einem Kopfballcontest. Wer am meisten Kopfbälle nacheinander schafft, gewinnt. Ich war ja erstaunt, dass ich 5 Stück zusammenbrachte, aber Peter haute irgendwas zweistelliges raus, was ich nicht mehr genau weiß. Peter hatte in Südkorea tatsächlich für zwei Jahre semiprofessionellen Fußball gespielt und hatte somit ein paar Vorteile, die er gegenüber den Athleten zeigen wollte. Aber zumindest hier kam Ema auch ganz gut ran. Daniel glänzte dann eher mit seinen Zweikampf-Tricks. Am Ende köpften wir uns den Ball noch gegenseitig zu und versuchten, dass er nicht runterfällt. Irgendwann erreichten wir die 10 und ließen es dann auch gut sein. Reggy schaute uns die ganze Zeit zu und fror mittlerweile ziemlich stark. Ich übrigens auch. Der Graupelschauer hatte zwar aufgehört, kam aber gerade am Ende wieder und kalt war es sowieso. Also machten wir uns auf die Socken und liefen mit Aussicht auf heißer Schokolade über einen verregneten Campus schnell wieder zurück zur Sierra Hall.

Jeder duschte zuhause erstmal ausgiebig, bevor wir uns dann wieder mal in Reggy's Zimmer trafen um wie vorher ausgemacht, unseren kompletten Vorrat an heißer Schokolade leerzutrinken. Peter hatte viele übrig, die kleine Marshmallows beinhalten. Wenn man die dann mit der Schokolade aufbrüht, lösen sie sich innerhalb einer Minute auf und machen das Ganze noch süßer. It's America! Aber es tat gut! Ein Abendessen fehlte aber trotzdem noch. Irgendjemand schlug Popeye's vor, was so etwas wie die Konkurrenz zu Chick-fil-A und im weitesten Sinne auch KFC und Raising Cane's ist. Eine Chicken-Kette also. Ich wollte sie aber immer schon mal ausprobieren, daher stimmte ich zu und wählte ein klassisches Chicken Sandwich. Nach einer Weile kam das Essen dann und wir stellten fest, dass ein Getränk von Peter fehlte und manche Extrawünsche nicht erfüllt wurden. Der Lieferant war aber schon wieder weg und auch ans Telefon ging keiner ran, da der Laden wohl gerade zugemacht hatte. Ganz schön doof. Zumal das Essen zwar gut war aber für den Preis auch etwas wenig. Damit fällt Popeye's leider gegenüber der Kokurrenz zurück. Tja. Später vergrößerte sich die Gruppe auf einmal wieder, denn Kiki und Aurora kamen hinein! Kiki war von zuhause aus einfach nochmal nach Reno gefahren um ihre Sachen zu holen. Aktueller Stand war ja, dass bis zum 25. März alle draußen sein müssen und das veranlasste viele Studenten, extra nochmal zurückzukommen. Kiki weiß noch nicht wie lange sie erstmal hier bleibt, aber sie schaut einfach mal. Aurora kam heute zurück aus Philadelphia, wo sie ihren Freund besucht hatte. Sie war froh uns wieder zu sehen, aber meinte auch, dass sie gerne zurück nach Paraguay möchte, da ihr Freund das auch vorhat. Da sie aber im gleichen Programm wie Reggy steckt, darf sie aktuell gar nicht weg, da es ihr ja nicht erlaubt wird. Wenn sie früher fliegen sollte, würde sie tausende Dollar verlieren, da das Programm dann nicht mehr zahlt. Naja, so schaut auch sie erstmal wie es sich in den nächsten Tagen entwickelt. Wir plauderten ein wenig und wenn ich mich recht entsinne (ich schreibe diesen Eintrag ja etwas später) sahen wir uns dann noch eine ausgewählte Folge von Black Mirror an. Das wollte ich eigentlich schon immer mal anfangen, aber ich bin allgemein sehr langsam was Serien angeht. :D Die Folge war ziemlich gut! Bis spät abends alberten wir dann noch herum und drehten unter anderem kleine Clips. Ist schon eine verrückte Gruppendynamik bei uns. Aber eine die gut funktioniert! Irgendwann ging es wieder auf die Zimmer und das war's dann nun endlich. Welche emotionalen Zerwürfnisse und plötzliche Wendungen des Schicksals wird der morgige Tag wohl bereithalten? Wir werden es bald herausfinden!

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Musikempfehlung des Tages: Jimmy Eat World - The Middle