12März
2020

Ab jetzt wird alles anders...

Wow, wie beginne ich diesen Blogeintrag nur? Vermutlich stellt dieser Tag eine Zäsur da im weiteren Ablauf hier in Reno. Es ist einfach nur verrückt, was hier und auf der ganzen Welt gerade passiert. Am besten beginne ich einfach ganz normal mit meinem Tagesablauf.

Todmüde stand ich heute auf. Ich musste aber um 9 Uhr eine Präsentation halten, also half alles nichts, ich musste raus aus dem Bett. Gottseidank waren wir nicht direkt um 9 Uhr dran, sondern erst als zweite Gruppe. Destiny, Miguel und ich gingen nach vorne und präsentierten unsere leicht zu kurze Powerpoint über das La Niña-Phänomen im Pazifik. Mein Redepart lief okay, obwohl ich doch einige Male stockte. Die anderen werden es mir als Nicht-Muttersprachler verzeihen. Nachdem es fast keine Fragen gab, durften wir uns wieder hinsetzen. Mal sehen welche Note das gibt. Bestimmt keine schlechte, aber wenn es weniger als die volle Punktzahl gibt, würde mich das in meiner Gesamtnote nach unten ziehen. :P Wir fuhren mit der Vorlesung fort und es wurde sofort langweilig. Fast ein bisschen erleichtert ging ich zu GIS I. Heute waren so wenig Studenten wie noch nie da. Nur etwa 20-30 von 80. Scott wandte sich vor der Vorlesung persönlich an mich und fragte mich, wie es mir geht. Ich sagte, dass es mir gut geht, aber ich bin ein bisschen besorgt über die Entwicklungen, die gerade stattfinden. Er meinte, er musste an mich denken, da ich ja bei einer eventuellen Schließung des Campus nirgends hin kann. An dieser Stelle will ich erwähnen, dass Scott Kelley vermutlich der netteste, professionellste und hilfsbereiteste Professor ist, den ich in meinen über 5 Studienjahren kennengelernt habe. Man merkt, dass er sich kümmert und das ist fast das wertvollste, was man als Professor ausstrahlen kann. Zu Beginn der Vorlesung ging Scott dann nochmal auf die mögliche Schließung des Campus nach Spring Break ein. Die Nachrichten überschlugen sich. Isiah vom Baseball-Team, neben dem ich ein paar mal in den Labs saß, meldete sich und gab bekannt, dass zumindest einige Professoren ihre Kurse auf online verlegen. Ich war währenddessen auf Instagram unterwegs, wo Ema vor ein paar Minuten verlauten ließ, dass alle Sportler zu einem Emergency Meeting kommen sollen. Kurz darauf kam die Meldung, dass alle sportlichen Aktivitäten bis zum Rest der Saison abgesagt wurden. Damit sind alle College-Sportarten in der höchsten Liga der USA (der NCAA) gemeint. Das war ein Schock. Sie machen ernst. Kein Baseball mehr, kein Football Spring Game mehr, kein Leichtathletik mehr, kein Tennis mehr, gar nichts. Mir fehlten die Worte. Scott versuchte, die Vorlesung so normal wie möglich zu halten. Ich konnte leider an nicht viel anderes denken. Das Thema war zugegeben auch langweilig. Am Ende der Stunde wandte sich Scott nochmal wegen meines Projekts am Ende des Semesters an mich. Ich hatte nicht wirklich viel deswegen gemacht musste ich ehrlich zugeben. Aber wer weiß, vielleicht habe ich ab jetzt ja genug Zeit. Wir plauderten auf dem Weg noch ein wenig über die ganze Situation gerade. Ich hoffe einfach nur, dass das nicht das letzte Mal war, dass wir uns persönlich gesehen haben. Das wäre irgendwie nicht richtig. Ich ging ins Paul Laxalt Mineral Research Building wo Numerical Modeling anstand. Ich hatte die Hausaufgabe ja nicht und versuchte das so gut es geht zu verstecken. Später ließ Scott McCoy beiläufig verlauten, dass er unsere Codes eh nicht wirklich anschaut, sondern lediglich will, dass sie da sind. Einer aus der Klasse sollte vorstellen. Das war dann der einzige Code, den er wohl so richtig sah. Er ist wirklich ein richtig entspannter, kumpelhafter Professor, wie er im Buche steht. Wir fingen mit einem neuen Thema an. Diesmal sollen wir bis zur zweiten Woche nach Spring Break drei Dateien mit Wasserpegeldaten aus Chile einlesen und darstellen. Soweit so einfach, aber leider kamen die Daten in so einem komischen Format, dass man sich da erstmal durchkämpfen musste. Sah schwer aus, aber erstaunlicherweise gelang es mir, am Ende der Stunde bereits die erste Datei richtig darzustellen. Ich war von mir selbst überrascht. Das reichte dann aber auch.

Kurz nach 15 Uhr verließ ich das Gebäude und lief nochmal rüber zu Elements, wo ich mir ein Chicken Pesto-Sandwich als Mittagessen holte. Ich lief zur Sierra Hall und traf im Konferenzraum auf Peter und Jiwon. Später kamen auch noch einige der Athleten rund um Oli und Rayven rein, die wir länger nicht mehr gesehen hatten. Leider musste ich noch eine Mail schreiben und dann auch schon wieder weitermachen. Muscle Hustle stand mal wieder an. Zusammen mit Peter, der einfach nur so mitkam, lief ich zum E.L. Wiegand Fitness Center und traf auf die kleinste Gruppe, die wir je in diesem Kurs waren: 5 Leute + Mia. Letztere nutze das gleich aus und ging mit uns zu den "Weights", wo man für eine große Gruppe keine Platz hätte. Wir benutzten verschiedene Geräte, unter anderem auch Langhanteln mit Gewichten. Das heutige Workout war damit wohl das, was der Vorstellung von "Muscle Hustle" am nächsten kommt. Ich spürte es überall, aber man fühlte sich fit. Gus war auch da und erzählte zwischendrin beiläufig, dass er heute Geburtstag hat. Ich gratulierte natürlich sofort! Mit ihm habe ich mich über die letzten Wochen ein bisschen angefreundet und ich musste drüber nachdenken, was nun passiert wenn das unser letztes Muscle Hustle war. Aber konzentrieren wir uns aufs Wesentliche. Wir setzten uns am Ende in einem Kreis auf den "Turf"-Boden und jeder durfte sich noch eine Bauchmuskel-Übung aussuchen. Ich wählte "Bicycles". Alle waren jedoch recht fordernd nach diesem starken Workout. Wir verabschiedeten uns voneinander und Mia sagte, dass wenn sie die Fitness-Kurse jetzt absagen, sie trotzdem jeden Dienstag und Donnerstag zur gleichen Zeit im Fitnesscenter sein wird. Na immerhin! Ich traf Peter draußen und wir liefen zurück Richtung Sierra Hall. Und da kam sie dann, die Nachricht auf die alle irgendwie gewartet hatten: Nach Spring Break werden alle Klassen nur noch online stattfinden. Alle Studenten, die eine andere Bleibe in den USA haben, werden dazu angehalten, nach Spring Break nicht mehr zurückzukommen. An diesem Punkt waren wir nicht mal mehr überrascht. Man hatte es irgendwie kommen sehen, nachdem nach und nach jede Uni in den USA diese Maßnahmen ergriffen hat. Immerhin, der Campus bleibt erstmal offen, man bekommt Essen und darf die Computer und andere Einrichtungen nutzen. Eine Frage stellte sich aber für uns: Was ist mit unserer Wohnsituation? In der Mail hieß es nur, dass Studenten, die nicht über eine andere Bleibe verfügen, sich beim Housing Service melden sollen. Wir riefen an, aber keiner ging ran. Sie haben ja auch schon geschlossen. Etwas verwirrt gingen wir runter zum Front Desk in der Sierra Hall, wo uns Angelica (die wir bisher nur vom Sehen kennen) erklärte, dass sie auch nicht mehr weiß als wir. Sie haben aber heute Abend alle ein Emergency Meeting. Außerdem erklärte uns Angelica dann noch, warum Handdesinfektionsmittel nicht wirklich wirksam sind, weil die meistens nicht gegen Viren helfen, und lediglich einen Film um die Hand legen und die Viren nicht abschrubben. Seife sei das A und O. Da habt ihr es also gehört. Beides habe ich nun übrigens schon öfters gesagt bekommen. Wir gingen in den Konferenzraum, wo Reggy und Joaquin saßen. Zeitgleich kam eine weitere Mail mit einer Kurzumfrage, in der wir angeben sollten, ob wir im Wohnheim bleiben müssen (wegen eines triftigen Grunds) oder nicht. Wir wählten alle natürlich die erste Option. Mal sehen. Wir begannen zu überlegen. Was wenn alle Amerikaner nach Spring Break nicht mehr zurückkommen. Sind es dann nur wir Internationals, die in der Sierra Hall zurückbleiben? Das ist doch auch irgendwie doof. Wir diskutierten noch ein wenig über unsere Pläne, entschieden dann aber, erstmal Abendessen zu gehen. Vor dem Konferenzraum trafen wir Oli, die nun eventuell mit zu Rayven nach Idaho gehen will. Gibt ja hier nichts mehr für sie zu tun. In der Mensa gab es natürlich auch kein anderes Thema. Es war aber irgendwie nett, mit allen so zusammenzusitzen. Jeder macht ja aktuell das gleiche durch, da tut so ein gemeinsames Essen irgendwie gut. Kiki stieß später auch noch dazu (Reggy schenkte ihr einen ihrer Meal Swipes) und Ema kam auch zu unserem Tisch, nachdem sie etwa 30 Minuten alleine mit Leuten in Italien telefoniert hatte. Unsere Gruppe blickt ganz unterschiedlich auf die Situation. Auch wenn ihr keinen dieser Leute kennt, vielleicht interessieren euch die verschiedenen Schicksale (das klingt sehr dramatisch, ich geb's zu :D). Diana: Will erstmal hierbleiben, denn was soll sie jetzt in Deutschland. Sie hat aber überlegt nach Australien zu ihrem Freund zu fliegen, da ein Flug wohl aktuell nur etwa 250$ kostet. Aber sie müsste dort in Selbst-Quarantäne gehen, was das Ganze wieder ziemlich unattraktiv macht. Reggy: Ihre Eltern wollen, dass sie wieder zurück in die Philippinen kommt, da sie sich sorgen. Sie selbst will das aber nicht und bleibt deswegen hier. Joaquin: Auch er sieht keinen Anlass, nach Chile zurückzugehen. Hauptgrund dafür ist aber die wirtschaftliche Situation im Land, die wohl gerade so richtig nach unten saust. Peter: Er will hierbleiben, einfach weil er es will. Er kennt aber andere Südkoreaner hier, die kurzfristig Flüge gebucht haben und morgen die USA verlassen. Man fragt sich warum, denn Südkorea ist ja auch stark vom Virus betroffen? Die Antwort ist einfach. Zunächst ist man zuhause in gewohnter Umgebung und nicht in einem fremden Land. Der größere Punkt ist allerdings das US-Gesundheitssystem. Hier muss man unter Umständen viel Geld bezahlen und die Versorgung ist weniger zuverlässig als in Südkorea. Außerdem gibt es in den USA mit Sicherheit schon mehr Fälle als offiziell bekannt. Viele gehen hier einfach nicht zum Arzt, da sie das einiges kostet. Danke USA, da seht ihr wohin eure konservative Politik euch führt! Kiki: Sie ist ja Amerikanerin und hätte eine Bleibe hier. Sie fährt über Spring Break heim und will aber erstmal zurückkommen wenn sie kann. Das Housing Department hat den Amerikanern nur "geraten" nicht zurückzukommen. Nicht dass sie das müssen. Schauen wir mal. Ema: Sie trifft das Ganze vielleicht sogar am stärksten. Ihr gesamte Leichtathletik-Saison wurde abgesagt. Also gibt es auch keine Trainings mehr. Sie erwähnte mehrmals, dass sie nun keinen Sinn mehr hier sieht. Warum noch hierbleiben, wenn man nichts mehr machen kann? Sie suchte schon nach Flügen nach Italien, aber es gibt aktuell keine. Die Flugseiten geben einfach nur Fehlermeldungen aus. Auch sie meinte, sie wäre lieber bei ihrer Familie im abgeriegelten Italien, als hier nur rumzusitzen. Auch irgendwie verständlich. Sie sitzt aber erstmal hier fest. Und dann ich: Ich habe keine Intentionen jetzt nach Deutschland zurückzugehen. Dort wäre ich nicht unbedingt sicherer als hier. Außerdem habe ich hier noch Kurse (wenn auch online) und habe für alles bezahlt. Es ist vermutlich mein einziges Auslandssemester in meinem Leben und ich bin den USA. Ich mache hier das Beste draus. Vor allem bin ich nicht böse, dass diese Maßnahmen jetzt ergriffen werden. Ich bin nur etwas geknickt, weil es gerade jetzt passiert und der ganze spaßige College-Alltag nun einfach so zum Erliegen kommt. So stellt man sich sein Auslandssemester nicht vor. Ich habe noch einige andere in meinem Umfeld noch nicht erwähnt. Das liegt aber daran, dass ich von ihnen noch nichts weiß. Ich habe nur erfahren, dass Brooke vorhat, nach Spring Break wiederzukommen. Schauen wir mal. Wir verließen alle gemeinsam "The Den". Ein Polizeiauto parkte vor der Great Basin Hall. Komische Atmophäre auf dem Campus.

In der Sierra Hall ging ich erstmal ausgiebig duschen. Aus Spaß zog ich mir danach mein pinkes Shirt vom Basketballspiel im Januar an auf dem steht: Go, Fight, Cure! Peter machte mit und auch Reggy zog sich ihr pinkes Shirt an. Wir setzten uns in den Konferenzraum, wo einige noch Hausaufgaben machen mussten (ich übrigens auch, den Code von Numerical Modeling hatte ich immer noch nicht hochgeladen). Wir diskutierten ein wenig über alles, versuchten aber auch uns abzulenken. Peter skypte mit seiner Familie und Ema sprach etwa eine Stunde mit ihrer Mutter am Telefon. Auch ich skypte kurz mit meinem Vater. Es war schön, mal wieder direkt mit den Leuten zuhause zu sprechen. Gerade jetzt tut das auch irgendwie gut. Um etwa 23 Uhr kamen alle RA's in den Konferenzraum und berichteten von ihrem Emergency Meeting. Alle internationalen Studenten dürfen wohl hierbleiben. Der Wohnheim-Betrieb wird dennoch heruntergefahren, etwa auf das Wintermester-Level. In der Winterpause hat nur die Sierra Hall geöffnet und alle Studenten, die auf dem Campus wohnen wollen (was meistens nicht viele sind), müssen in die Sierra Hall ziehen. So ähnlich wird es nun auch laufen. Die Sierra Hall bleibt geöffnet und eventuell auch ein oder zwei andere Wohnheime. Immerhin, wir sind vorerst sicher! Der Abend klang langsam aus. Carla kam kurz herein und bat Joaquin und Ema um Hilfe bei ihrer Mathe-Hausaufgabe, die bis 23:59 Uhr fällig ist. Sie schaffte die Deadline nicht ganz und die anderen waren etwas genervt. Sie hat übrigens auch vor nach Spanien zurückzufliegen. Auch die Tennissaison ist ja abgeblasen. Nach und nach verließen alle den Raum und nur ich blieb als Letzter übrig. Ich versuchte mit meiner Mutter und meiner Schwester zu skypen, aber das WLAN, das auf irgendeinem Grund abends sehr sprunghaft ist, machte nicht richtig mit und so wurde es nur ein Sprachanruf mit den wichtigsten Sachen. Im Anschluss packte ich es dann aber auch. Wird auch Zeit, denn das Beste was man machen kann ist wohl erstmal eine Nacht drüber schlafen.

Ich habe gemerkt, dass dieser Eintrag sehr dramatisch formuliert ist. So nimmt man es eben wahr, aber vermutlich ist es das gar nicht. Zumindest aktuell nicht. Mir geht es jedenfalls gut und das wird es auch hoffentlich weiter. Ich habe hier Freunde, die im selben Boot sitzen. Wir können eh nur das Beste draus machen, also bringt es nichts, sich nun großartig aufzuregen. Es ist eben eine gewisse Melancholie eingetreten. Aber noch habe ich knapp 3 Monate(!) in den USA. Erstmal abwarten, was passiert. Ich hoffe es geht auch euch allen gut! Ich freue mich, dass mein Blog so fleißig gelesen wird und ich denke, es war eine gute Entscheidung ihn zu eröffnen. Es nimmt zwar manchmal Zeit in Anspruch (manchmal auch zu viel) aber das ist es wert. Wie gesagt, passt auf euch auf und macht das Beste draus. Vielleicht hat man nun endlich mal Zeit, Dinge zu tun, die man immer schon tun wollte. Vielleicht tut das den Menschen auch allgemein mal gut, sich einfach mal ein bisschen herunterzufahren. Wir schaffen das! Und Händewaschen nicht vergessen! :P

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